• Wiebke Salzmann

  • Text-Wirkerei

  • Wirken an Texten – Wirken von Texten

Sagenhafte Hinterlassenschaften

Diese Geschichte entstand, als ich gelesen hatte, dass der Klabautermann ursprünglich in Bäumen lebt und mit dem Baum auf das Schiff gerät, das aus dem Holz gebaut wurde. Ich habe mich dann sofort gefragt, was der Klabautermann macht, wenn das Holz des Schiffes zweitverwertet wird …

Dieser Text ist in einer gründlicheren Überarbeitung unter dem Titel „Die Mutter des Klabautermanns“ als Krimikarte erschienen.


„Nun reden Sie endlich! Sie kommen hier nicht mehr raus!“ Kommissarin Löffler stützte sich auf den Tisch und beugte sich vor, als wollte sie die Verhaftete bei lebendigem Leib verschlucken. Die jedoch zuckte nur stumm die Schultern. Seit sie heute mittag ihren Namen zu Protokoll gegeben hatte, hatte sie kein Wort mehr gesagt.
„Verdammt noch mal – wir haben die Knochen eines Menschen in ihrem Garten gefunden! Sie wurden dabei beobachtet, wie Sie sie vergraben haben! Also erzählen Sie uns endlich, von wem die Knochen stammen!“ Dann ließ Löffler sich erschöpft auf ihren Stuhl fallen. „Als ob wir das nicht schon wüssten. Also sagen Sie uns doch endlich die Wahrheit!“
Schweigen.
„O.k., lassen wir das. Vielleicht bringt Sie eine Nacht in der Zelle zum Reden. Abführen!“

Erleichtert hörte Idis, wie die Zellentür zufiel und sich der Schlüssel drehte. Endlich Ruhe vor diesen ständigen Fragen, auf die sie keine Antwort wusste. Die Wahrheit sagen. Guter Witz. Die Wahrheit würde sie zwar möglicherweise vor einer lebenslangen Haft wegen Mord bewahren – aber statt dessen vermutlich genauso lebenslang in die Geschlossene bringen. Wann hatte dieser Wahnsinn eigentlich angefangen? An dem Tag, als sie Ali Baba und die vierzig Räuber tot im Garten gefunden hatte? Oder schon, als sie das Erbe ihres Großvaters angenommen hatte? Am Ende war der schuld. Mit seiner verrückten Vorliebe für Schatzsuche und alte Geschichten. Hätte er sich nicht Fußball als Hobby aussuchen können? Oder Autos? Wie jeder normale Mann? Aber wer konnte denn ahnen, was für Folgen eine Erbschaft nach sich ziehen würde, die allem Anschein nach nur aus einer Bruchbude, einem Haufen durchgeknallten Viehzeugs und einem Modellschiff bestand? Genau genommen wusste sie nicht, ob die Hühner auch durchgeknallt gewesen waren, weil sie nicht wusste, wie Hühner sich benahmen, ob durchgeknallt oder nicht. Sie hatte auch kaum eine Chance gehabt, längere Studien vorzunehmen, da sie bereits eine Woche, nach dem sie das Haus übernommen hatte, allesamt tot im Stall lagen. Der Hahn Ali Baba hing in der Krippe von Scheherazade, die vierzig Räuber lagen drumherum. (Gut, vierzig Hühner waren es nie gewesen, höchstens zwölf, nachgezählt hatte sie nicht.) Damals dachte sie noch an Vogelgrippe oder sowas und ihre größte Sorge bestand darin, wie um Himmels willen man ein gutes Dutzend toter Eierleger umweltgerecht entsorgt und ob der Stall jetzt verseucht war und Scheherazade sich anstecken könnte. Noch sah der Esel quietschlebendig aus. Und hörte sich auch so an. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Idis schnappte sich Eimer und Putzlappen, schloss die Stalltür und ging hinüber zum Haus. Vorsichtig öffnete sie die Haustür, machte einen Riesenschritt über die Schwelle – und stolperte dann vor der Küchentür über Fafnir. Die Dogge öffnete nur kurz ein Auge, klopfte einmal mit dem Schwanz auf den Boden und schloss das Auge wieder.
Der Rest des Vormittags verging mit dem, was sie seit dem Tod ihres Großvaters täglich machte – aufräumen, saubermachen, überlegen, welche Reparaturen an der alten Hütte unumgänglich waren (eigentlich alle, aber das konnte sie sich nicht leisten). Sie putzte gerade die Fenster im Schlafzimmer herunter, als es draußen polterte und fluchte. Idis sah zur Uhr, 11, der Briefträger war pünktlich wie immer. Und wie immer auf Fafnir gestoßen. Sie hatte es ja schon mit einem Schild am Zaun versucht: „Achten Sie auf den Hund!“, aber das hatte nur zur Folge, dass alle nervös um sich sahen und heranstürmende Dobermänner suchten. Niemand sah auf den Boden, wenn er durch die Tür kam. Sie trocknete sich die Hände und ging hinaus, um Briefträger und Briefe aufzuheben. Faffnir lag vor dem Gartentor und wedelte zweimal. Ein Auge zu öffnen, war ihm schon zu anstrengend.
„Dieser Hund ist gemeingefährlich!“ Der Postbote richtete sich zum Sitzen auf. „Und jetzt bitte nicht den Spruch ‚Der tut doch nichts!‘ Genau das ist bei dem Viech das Problem!“
Etwas kleines, weißes schoss über den Hof, jagte über den Briefträger hinweg, gerade als der aufstehen wollte und knallte gegen dessen Kopf. Leicht verdattert sahen der Postbote und der West-Highland-White-Terrier sich einen Moment an, dann sauste Fenrir weiter auf seiner imaginären Jagd nach was-auch-immer.
„Und dieser Irrwisch ist auch nicht besser. Hier, das ist Ihre Post.“ Der Briefträger reichte Idis eine Handvoll Briefe und stiefelte zu seinem Fahrrad hinüber, diesmal einen konzentrierten großen Schritt über den schnarchenden Faffnir hinweg machend.

Idis kam erst abends dazu, die Briefe zu öffnen. Sie lümmelte sich in Großvaters Ohrensessel, nippte ab und zu am Rotwein, versuchte sowohl Faffnirs Schnarchen als auch den weißen Kugelblitz zu ignorieren, der kreuz und quer durch die Stube schoss, und genoss das Feuer im Kamin. Der Kamin war doch mal ein Vorteil an dieser alten Hütte, die ihr Großvater ihr hinterlassen hatte. Sie war immer noch nicht sicher, ob sie das Haus würde halten können. Aber was sollte sonst aus den Viechern werden? Die konnte sie doch unmöglich in einer Mietwohnung halten. Den ewig schlafenden Fafnir vielleicht gerade noch – aber Fenrir oder gar Scheherazade? Der West-Highland-Terrier schoss über sie hinweg, prallte gegen Fafnir (was noch nicht einmal dessen Schnarchrhythmus störte) und sauste hinter dem Sofa lang.
Werbung, eine Rechnung und – nanu? Von ihren Brüdern? Genau genommen nur Halbbrüder. Was die auch nie vergaßen zu erwähnen. Die drei stammten aus der ersten Ehe ihres Vaters und hatten sie und ihre Mutter immer als Eindringlinge und Erbschleicher verachtet. Idis schüttelte sich bei der Erinnerung an die Szenen, die sich nach dem Tod ihres Vaters abgespielt hatten. Sie hatte zum Schluss auf alles verzichtet, nur um ihre Ruhe zu haben. Seufzend drehte sie den Brief hin und her. Sollte sich das jetzt alles wiederholen? Aber was wollten die drei denn mit einem abbruchreifen Haus, einem quietschenden Esel und zwei gestörten Hunden?
Sie riss den Umschlag auf und überflog das Blatt darin. Tatsächlich. Die Bande wollte, dass sie auf ihr Erbe verzichtete. So ein Schwachsinn. Das war doch reine Schikane – es ging doch nur darum, dass sie nichts aus der Familie bekam, wie wertlos es auch immer war. Hatte sich von denen denn jemals einer um die Viecher gekümmert, wenn der Großvater mal wieder auf Tour mit der Rhiannon war? Wer war denn zu nachtschlafener Zeit aufgestanden und rausgefahren, um den Esel rauszulassen, mit den Hunden eine Runde zu drehen und den Hühnern die Kartoffelschalen hinzuwerfen?
Stirnrunzelnd las sie den Satz im „P.s.“: „Wir hoffen, das Frühstück hat geschmeckt. Sollen wir das wiederholen?“
Was sollte das denn? Was hatten die mit ihrem Frühstück zu tun?

Mitten in der Nacht fuhr Idis auf, schoss senkrecht in die Höhe und starrte den Frisiertisch ihrer Großmutter an, ohne ihn wirklich zu sehen. Das Frühstück. Sie hatte das Frühstück gar nicht gegessen. Die Müslipackung war nicht ordentlich verschlossen gewesen. Sie hatte an einen Verpackungsfehler gedacht und befürchtet, der Inhalt wäre nun trocken und fade.
Deshalb hatte sie es an die Hühner verfüttert.
Idis schlang die Arme um die angezogenen Knie und hätte am liebsten die friedlich schnarchende Dogge vor ihrer Tür ins Bett geholt, so kalt war ihr auf einmal.

Seitdem war ihr Leben nicht mehr das, was es mal war. Und wenn ihr nicht bald etwas einfiele, wie sie die Knochen erklären konnte, würde es das auch nie wieder sein.

Als Idis am nächsten Morgen ihr Zellenfrühstück verspeiste, hatte sie auch endlich einen Plan – oder wenigstens einen Plan zu einem Plan – was sie den Beamten erzählen wollte. Man hatte ihr sogar eine Zeitung gebracht, wenn auch die vom Vortag. Aber die kannte sie auch noch nicht, sie war verhaftet worden, als sie sie gerade aus dem Briefkasten holen wollte. Die Topmeldung im Lokalteil war ein Fischerboot, das draußen an den Felsen im Sund leck geschlagen und gesunken war. Idis stutzte beim Anblick eines alten Fotos von dem Schiff. Das war doch die Theresa, das Boot ihres Vaters, das jetzt ihren drei Halbbrüdern gehörte. Ja, die Figur in der Decke, da auf dem Foto, das war Rolf. Idis las den Artikel gründlich von vorn bis hinten. Zwei Männer an Bord. Zwei. Dann wusste sie ja immerhin, wer sie beim Knochen verbuddeln beobachtet hatte. Einer schwer verletzt, der andere tot. Gesunken. Ausgerechnet in der Nacht auf Freitag? Na, das war doch wenigstens ein bisschen ausgleichende Gerechtigkeit. Der Journalist ließ sich genüsslich über Rolf aus, der angeblich den Klabautermann gesehen hatte, kurz bevor das Schiff sank, und fand es witzig dass der Aberglaube unter Seeleuten offenbar nicht auszurotten war. Aber wenn Rolf noch über Klabautermänner reden konnte, war offenbar Harald der Tote. Idis las den Artikel noch mal von vorn bis hinten. Kein Wort. Kein Wort über Fenrir. Welche Chance hätte er in dem sinkenden Schiff auch gehabt? Sie schlug die Hände vor das Gesicht und gestattete sich das erste Mal, die Fassung zu verlieren. Sie schluchzte immer noch, als eine Polizistin kam, um sie zum nächsten Verhör zu holen.

Kaum hatte die Kommissarin sich im Verhörraum Idis gegenüber niedergelassen, öffnete sich die Tür wieder und eine Frau in dem Fernsehen nach zu urteilen typischer Gerichtsmedizinerinnenkleidung reichte der Löffler eine Mappe.
„Hat das nicht Zeit bis später, Aufschneiderin?“ Die Kommissarin verzog den Mund.
„Sonst könnt Ihr es doch nie abwarten, bis mein Bericht kommt. Und nein, ich fürchte es ist einigermaßen eilig. Diese Knochen – die sind um die vierhundert Jahre alt. Es handelt sich also wohl kaum um euren vermissten Versicherungsvertreter.“
„Vier- was?“ Der Löffler standen Mund und Augen offen.
„Vierhundertundzweiunddreißig“, murmelte Idis und hatte das erste Mal seit Tagen das Gefühl, dass die Dinge nicht vollständig schief liefen. „Aber ...“, die Löffler drehte sich wieder zu Idis um, „... wie kommen Sie dazu, vierhundert Jahre alte Knochen in Ihrem Garten zu vergraben? Wo haben Sie die eigentlich her?“
„Aus der Ragnhild.“
„Das sind Rangenhilds Knochen? Wer zum Teufel ist Rangenhild?“
„Ein Schiff. Und nein, es sind nicht seine Knochen. Sie lagen nur drin. Und ...“
Idis holte Luft. Jetzt nur keinen Fehler machen. „Eigentlich ein Wrack. Ein Schiffswrack. Ich hab’s gefunden, beim Tauchen draußen im Sund. Und dann waren da diese Knochen drin. Seit – wie vielen Jahrhunderten? Vier? Und ich dachte, das war doch mal ein Mensch, der muss doch beerdigt werden. Aber Sie wissen doch, was passiert wäre, wenn ich offiziell mit diesen Knochen zu Behörden gegangen wäre. Irgendwelche Denkmalsschutzämter oder Archäologen hätte die beschlagnahmt und der arme Kerl wäre im Museum gelandet und nie erlöst worden ... ich meine, also, ähm ...“ Ein rascher Blick ins Gesicht der Kommissarin zeigte Idis, dass die den Versprecher mit dem „erlöst“ nicht mitbekommen hatte.
„Keine Ahnung, ob jeder alte Knochen für Archäologenschutzämter interessant ist. In jedem Fall ist das nicht mein Job. Sie können gehen. Und ich brauch was zu essen.“
Idis war schon fast den Flur hinunter, da tauchte die Kommissarin mit einer Streuselschnecke in der Hand nochmal aus ihrem Büro auf. „Waren in dem Wrack auch Schätze? Alte Piratengoldmünzen? Verfluchtes Seeräubergold?“
Idis zögerte, dann sah sie der Kommissarin ins Gesicht. „Doch. Da waren Goldmünzen, Schmuck, alles was laut Hollywood dazugehört. Aber das haben sich andere unter den Nagel gerissen. Welche Abteilung ist für Diebstahl zuständig?“

Die Aufzugtür schloss sich. Idis lehnte sich an die Wand und lauschte auf das Summen. Was tat sie hier? Das war doch bloße Rachsucht. Eigentlich war es um die Knochen gegangen. Und die landeten nun wohl doch im Museum. Der Aufzug machte „Pling“, die Tür ging auf und ein Hinweisschild zeigte Idis den Weg zu den für Diebstahl zuständigen Kollegen. Sie wandte sich nach rechts und gestand sich ein, dass sie den Zirkus hier nicht zuletzt deshalb machte, weil sie sich davor drückte, ihm zu gestehen, dass er nun doch nicht beerdigt werden konnte.

Mord? Hatten die sie mit dem Müsli umbringen wollen? Nein, dann hätten sie ja den Brief nicht noch geschickt. Offenbar sollte das nur ein Warnschuss sein – es sollte ihr nur schlecht gehen. (Hühner reagierten da offenbar empfindlicher.) So schlecht, dass sie einlenken würde. Nun, schlecht ging es ihr, insofern hatte der Anschlag Erfolg. Aber einlenken wollte sie deshalb noch lange nicht. Da müssten sie sie schon wirklich vergiften!
Sie packte den Pinsel und drückte ihn so entschlossen gegen den Zaun, dass zwei Latten brachen.

Idis packte sich den Teller Suppe auf den Schoß und begann zu löffeln. Die Suppe schwappte im Löffel und es gelang Idis kaum, sie sicher in den Mund zu bugsieren. Sie war es nicht gewöhnt, den ganzen Tag Zaunlatten anzunageln und ihre Armmuskeln versagten nun bei dem Suppenlöffel ihren Dienst. Aber wenigstens waren jetzt alle morschen Latten ersetzt.
Schließlich schlief sie mit dem halbleeren Teller auf den Knien ein. Sie erwachte davon, dass irgendetwas an ihr herumzupfte. „Fafnir, lass das ... lass mich schlafen ...“ Sie blinzelte, der Teller war wie erwartet leer, Fafnir lag zwar wieder vor der Tür, seine Schnauze glänzte aber suppenfeucht. Idis wollte die Augen wieder schließen, als ihr aufging, dass Fenrir wie ein Irrer im Kreis durch die Stube raste. Im Kreis um etwas herum. Um jemanden herum. Jemanden, der eine Pfeife im Mund hatte, feuerrote Haare auf dem Kopf, der das Gesicht in den Händen versteckte und unablässig murmelte: „Ist das peinlich. O Himmel, ist das peinlich. Wenn das jemand mitkriegt ... ich kann doch nur noch mit einem Sack über dem Kopf umgehen ... wie peinlich!“
Idis fuhr auf, der Teller klirrte auf den Boden, der Löffel schepperte hinterher. „Wer ... was ... Was wollen Sie hier? Gehen Sie! Auf der Stelle oder ich rufe die Polizei!“
„Die Polizei? Gehen?“ Das Gesicht tauchte hinter den Händen auf und offenbarte eine Doppelreihe Zähne. Grüner Zähne. „Ja, glauben Sie denn, ich bin freiwillig hier? Ich hab mir das doch nicht ausgesucht! O Gott, ist das peinlich!“
Das Gesicht verschwand wieder hinter den Händen.
Idis beschloss – unter Vorbehalt – dass von diesem Grünzahn keine akute Gefahr ausging. „Ähm, guter Mann – was genau ist denn so peinlich? Und warum sind Sie hier, wenn Sie das eigentlich gar nicht wollen?“
„Peinlich? Das Ding da ist peinlich!“ Ein kurzer, nicht gerade arielreiner Finger schoss in Richtung Kommode. Idis musterte das unschuldige Möbel. War vielleicht nicht mehr so ganz der letzte Schrei, aber peinlich ... Dann ging ihr auf, dass der Bursche das Schiff meinte. Das Modellschiff, das sie von ihrem Großvater geerbt hatte und das auf der Kommode stand. Sie sprang auf und lief zum Schiff hinüber.
„Also hören Sie mal, daran hat mein Großvater zwei Jahre gebastelt! Das ist originalgetreu, hier sehen Sie sich das an – jede einzelne Rah hat er angeklebt und die Wanten selbst zusammenge...“
„Originalgetreu! Originalgetreu! Aber eben kein Original! Das ist ein verdammtes Spielzeugschiff! Wissen Sie, auf was für Seglern ich mitgefahren bin? Barken, Vollschiffe – Königinnen der Ozeane! Und jetzt ein – Spielzeugschiff! Ist das peinlich!“
Auf Seglern mitgefahren. Idis starrte ihren mitternächtlichen Gast an und setzte sich ganz langsam wieder. „Wie, sagten Sie noch, war Ihr Name?“
„Hab ich noch gar nicht gesagt. Das ist es doch, was ich meine. Glauben Sie, auch nur einem Matrosen auf welchem Segelschiff auch immer hätte ich mich vorstellen müssen? Jeder kannte den Klabautermann! Und heute ... Spielzeugschiffe!“ Finster starrte er Idis an. „Aber wenigstens sind die Hühner alle weg. Ich hab ne Hühnerallergie. Und nun?“
„Nun was?“ Idis registrierte, dass Fafnir wach war, den Kopf eine Handbreit gehoben hatte und träge in der Luft schnüffelte. Für Fafnirs Verhältnisse also hochgradige Hektik verbreitete. Fenrir stand (ja, wirklich, er stand still) vor der Stubentür und kläffte. Irgendwas stimmte hier nicht. Sicher, der Klabautermann stand bei ihr in der Stube, aber warum bellte Fenrir die Tür an?
Der Klabautermann schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen himmelwärts. „Sie wissen gar nichts, oder? Wann erscheint der Klabautermann? Heh? Wann?“
„Naja, wenn sein Schiff untergeht – aber du lieber Himmel, das Schiff da steht sicher auf der Kommode. Das geht nicht unter. Wie sollte ...“ Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gedacht, da roch sie den Rauch und sah ihn unter der Tür hervorquellen. Klar, wenn das Haus abbrannte, brannte das Schiff mit ab. Sie schnappte sich die Hunde, riss das Fenster auf, warf beziehungsweise schob die Tiere nach draußen und während sie selbst hinterher sprang, wählte sie schon 112.

„Da haben Sie ja nochmal Glück gehabt, junge Frau.“
Ein Mensch in Schutzanzug und Helm – sie konnte noch nicht einmal genau ausmachen, ob männlich oder weiblich – stand neben ihr. Aha, weiblich, erkannte Idis, als der Feuerwehrmensch das Visier hochschob. „Hat nur im Keller gebrannt, das Haus ist bloß verraucht. Da unten steht jetzt allerdings alles unter Wasser.“
Idis verzog die Mundwinkel. „Na, dann ruf ich doch mal die Feuerwehr zum Abpumpen ...“ Sie konnte die Feuerwehrfrau gerade noch am Ärmel zurückziehen, bevor die über Fafnir stolperte.
„Aha, bloß verraucht.“ Idis hielt die Hand vor die Nase, als sie den Flur betrat und riss sofort alle Fenster auf. Gut, dass sie mit Renovieren noch nicht angefangen hatte. Fenrir sprang durch das Küchenfenster herein, raste den Flur entlang und sauste durch das Stubenfenster wieder nach draußen. Der Luftzug wirbelte ein Blatt auf, das auf dem Boden gelegen hatte. Gedankenlos fing Idis es ein und stieg die Treppe hinauf. Hoffentlich war das Schlafzimmer nicht so verräuchert. Sie streckte die Hand nach der Klinke aus und verharrte, als ihr Blick auf das Blatt fiel. Wie in einem Krimi waren ausgeschnittene Buchstaben darauf geklebt.
„Reicht das als Warnung? Du weißt, was wir wollen.“

Nein, wusste sie nicht. Idis sah zum Küchenfenster hinaus und wärmte sich die Hände an der heißen Tasse. Erfolglos. Ja, um ehrlich zu sein, die Warnung reichte ihr. Aber was sollte sie tun? Fenrir raste über den Hof, Scheherazade quietschte vergnügt und ohrenbetäubend und Fafnir schlief den Schlaf eines Hundes mit gutem Gewissen (vor dem Gartentor). Alle ins Tierheim? Ganz davon abgesehen, dass sie selbst auch keine andere Wohnung hatte. Ihr war gekündigt worden und Großvaters Bruchbude gewissermaßen ihre Rettung gewesen. Die Kerle konnten doch unmöglich an den Tieren interessiert sein. Oder an dem Haus, dessen Renovierung mehr Geld verschlingen würde, als es je wert gewesen war. Was wollten die von ihr? Sie hatte nicht die geringste Ahnung.
Und wenn sie Scheherazade ein paar Wochen woanders unterbrachte und mit den Hunden eine Zeitlang verschwand? Hm, dummerweise gab es da noch ihre Arbeit. Ihr Urlaub war bald zu Ende und sie würde wieder hingehen müssen. Sie ging ins Arbeitszimmer und ließ den Rechner hochfahren, ohne noch genau zu wissen, nach was sie eigentlich suchen sollte.
Ein paar Stunden später hatte sie immer noch keine Lösung, wusste aber immerhin, dass der Klabautermann offenbar in Bäumen hauste und wann immer aus einem solchen Baum ein Schiff gebaut wurde, hatte es fortan den Klabautermann an Bord. Und in einem Zeitalter, in dem kein Mensch mehr Schiffe aus Holz baute, hatte der offenbar ein Identitätsproblem.
Wenn sie sich die nächtliche Erscheinung nicht einfach nur eingebildet hatte. Wahrscheinlich hatte sie den Rauch gerochen und einen wilden Traum daraus gemacht. Andererseits war das alles sehr real gewesen ... Eigentlich könnte sie doch ... Sie sah hinüber zur Kommode, auf der das Schiff stand. Es war Großvaters ganzer Stolz gewesen, er hatte oft gesagt, nur sie sollte es einmal erben, sie sei die einzige, die es verdiente. Sie hatte es nie übers Herz gebracht, ihm zu sagen, dass ihr Verhältnis zu Schiffen und Booten ein eher gestörtes war. Sie war zwar in der Lage, die Rhiannon zu steuern, sie hatte Großvater auch oft auf seinen Tauchgängen begleitet, aber nur ihm zuliebe. Sie selbst konnte Wasser bestenfalls in der Badewanne mit Schaumzusatz gut leiden. Aber ihm war dieses Ding nun mal sehr wichtig gewesen, deshalb zögerte sie, ihre Idee in die Tat umzusetzen. Aber nur so konnte sie herauskriegen, ob sie geträumt hatte oder nicht.
Idis stand auf und ging hinüber zur Kommode. Sie streckte die Hand aus, ergriff eine Rah am Großmast und brach sie ab.
„Sind Sie jetzt total bescheuert? Warum tun Sie das? Und zwingen mich, hier wieder aufzutauchen! Bei einem Spielzeugschiff! Pein...“
„Ja – ich weiß. Peinlich. Aber woher hätte ich denn sonst wissen sollen, ob es Sie wirklich gibt. Oder ich nicht einfach nur durchdrehe.“
„Durchdrehen? Warum sollten Sie denn durchdrehen? Sie sind ja nicht auf hoher See, sondern haben nur einem Spielzeugschiff eine Spielzeugrah abgebrochen!“ Der Klabautermann stemmte die Arme in die Seiten, die grünen Zähne mahlten auf der Pfeife herum.
„Es hat immerhin zwei Mordanschläge auf mich gegeben – aber das interessiert Sie nicht, oder? Nur das blöde Schiff! Und ich weiß noch nicht mal, warum die mich umbringen wollen.“
Der Klabautermann zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, aus dem sie auch Ihren Großvater umgebracht haben. Wegen der Pläne.“
Idis starrte die rothaarige Erscheinung an. „Großvater ...“
„Ja, glauben Sie, ihr Großvater wäre einfach so ertrunken? Nee, die haben den betäubt und über Bord geworfen. Wegen der Pläne.“ „Aber ... woher wissen Sie das? Ich meine, wenn Sie zu dem Schiffsmodell gehören ...“
Der Klabautermann verzog das Gesicht. „Nicht nur zu diesem. Aus dem Baum ist das Material für fünf Schiffsmodelle hergestellt worden. Eins ist auf dem Mühlenteich untergegangen, als die Kinder es dort haben schwimmen lassen, eins ist zu Bruch gegangen, als die Hauskatze eine Maus gejagt hat, eins ist als Buddelschiff in Lindau am Bodensee, eins steht hier und das vierte steht auf der Theresa. Und als Ihr Großvater sich gegen Ihre Brüder zur Wehr gesetzt hat, stieß er dagegen und es wäre um Haaresbreite zerschellt. Deswegen musste ich dahin. Und hab den Rest mitgekriegt.“
Seufzend setzte der Klabautermann sich und stopfte seine Pfeife neu. „Und ich konnte ihm noch nicht mal helfen. Kann ich nicht, wissen Sie. Ich überbringe bloß die Warnung, wenn ein Schiff untergeht. Und was passiert zum Dank? Die Leute schaffen Hühner an Bord, weil mich das angeblich fernhält! Dabei kann ich gar nichts dafür, wenn ein Schiff untergeht! Ich bin bloß der Bote! Ein Bote mit Hühnerallergie.“ Er schniefte ein bisschen vor sich hin. „Und ihr Großvater, der hat das verstanden. Wir haben uns oft unterhalten. Obwohl er mich auch immer auf die Weise gerufen hat.“ Er nickte zu der Rah hinüber, die Idis noch in der Hand hielt. „Was glauben Sie, wie oft er den Klüverbaum neu angeklebt hat. War aber nett, mit ihm zu plaudern.“ Der Klabautermann nahm einen tiefen Zug aus der Pfeife und sah forschend zu Idis hinüber. „Er hatte auch immer Rum da. Obwohl ich eigentlich lieber Met trinke.“
Seine Gastgeberin war viel zu starr, um diesen Wink mit dem Großmast auch nur zu registrieren. Großvater ... ermordet? Aber warum?
Der Klabautermann stand schließlich auf, ging zielstrebig auf das Büfett zu und zog mit sicherem Griff eine Flasche hervor. Er schraubte den Verschluss ab, setzte die Flasche an den Mund, warf einen Blick auf Idis, stellte beruhigt fest, dass die immer noch völlig erstarrt stand, und nahm einen tiefen Schluck. Ohne sie aus den Augen zu lassen. Bei Frauen konnte man nie wissen. Die kamen in allen Jahrhunderten auf komische Ideen. Gläser und so Zeug.
Kaum hatte er die Flasche wieder abgesetzt, wurde sie ihm aus der Hand gerissen. Statt ihm einen Vortrag über Tischmanieren zu halten, trank Idis nun selbst aus der Flasche. Nun ja, auch für Überraschungen waren Frauen immer gut gewesen. Immerhin war sie jetzt wieder sie selbst.
„Was für Pläne?“

Am Abend war Idis wieder etwas hoffnungsvoller. Wenn es nur um diese Pläne ging, dann würde sie die eben suchen müssen. Leider konnte ihr Schiffsgeist ihr nicht verraten, wo die waren. Darüber hatte ihr Großvater nie mit ihm gesprochen – nur während des Kampfes auf der Theresa war davon die Rede gewesen. Es ging um irgendein Wrack, das ihr Großvater beim Tauchen gefunden hatte und auf dessen Goldschätze ihre Halbbrüder nun scharf waren. Idis schüttelte den Kopf. So ein Quatsch. Reichtümer auf versunkenen Schiffen gab es nur in Kinderbüchern und Hollywoodfilmen. Aber wenn sie dann ihre Ruhe hatte, sollten die Kerle die Pläne von ihr aus haben. Nur finden musste sie sie zuerst. Der Klabautermann hatte sich irgendwann sehr plötzlich verabschiedet („Drohende Havarie in Lindau – das Kleinkind spielt Fußball mit dem Buddelschiff. Dabei hatte ich gehofft, da nie hinzumüssen. Ich meine – ein Buddelschiff an einem See! Das ist nicht nur peinlich, das ist absolut oberpeinlich!“) und seitdem hockte sie in Großvaters Ohrensessel und versuchte, die Ereignisse zu verarbeiten. Sie hatte sich ja auch gewundert, dass der Großvater ausgerechnet ertrunken sein sollte – aber er war ja auch nicht mehr der Jüngste und Vorsicht gehörte auch nicht zu seinen überragenden Eigenschaften. Sie hatte gedacht, er hätte sich einfach überschätzt. Aber würde man den Dreien den Mord nachweisen können? Der einzige Zeuge war vermutlich vor Gericht nicht verwendbar. Ganz abgesehen davon hatte sie wirklich Angst davor, was die Drei mit ihr anstellten, wenn sie zur Polizei ginge. Bis ihre Brüder dann sicher hinter Schloss und Riegel saßen, hatten sie noch jede Menge Gelegenheit, sie ebenfalls zu beseitigen. Bisher hatte sie ja noch nicht einmal eindeutige Beweise für die Anschläge, die ihr gegolten hatten. Der Satz zu dem Frühstück war viel zu unverfänglich und der Zettel, den sie nach dem Brand gefunden hatte, war nicht handschriftlich. Der konnte von jedem sein.
Es half nichts – sie musste diese Schatzkarte finden und ihren Brüdern übergeben. Gerade wollte sie aufstehen und Fenrir suchen, da hörte sie ihn kläffen. Ein dumpfer Schlag, dann jaulte der kleine Hund. Idis schoss hoch, rannte zur Tür – und sah sich drei Pistolen gegenüber. Langsam wich sie zurück. Rolf, Harald und Dietrich bauten sich nebeneinander vor ihr auf. Es gelang Idis, an ihnen vorbei in den Flur zu sehen. Von Fenrir keine Spur.
„Was glotzt du so? Der Köter hat nur gekriegt, was er verdient hat. Gib uns die Karte und wir verschwinden wieder.“
„Ich weiß doch gar nicht ...“
Eine der Pistolen schwebte auf einmal nur ein Fingerbreit vor ihrer Nase. „Hör auf mit dem Quatsch! So dicke, wie du immer mit dem Alten warst! Klar, weißt du, wo die ist! Also her damit!“
Idis’ Gedanken rasten, ihr Blick flog in der Stube hin und her. Schließlich hob sie ganz sacht einen Finger und deutete auf die Kommode. „Ich muss dann aber dahin ...“
Die Pistole winkte ungeduldig hinüber. Idis trat zur Seite, tat langsam noch einen Schritt, und einen weiteren, ihre Brüder nicht aus den Augen lassen. Die drehten sich mit ihr mit, mussten zurückweichen, um sie vorbeizulassen – einen Schritt, noch einen ... dann war das nur noch ein Gewirr aus Armen, Beinen und Pistolen. Rolf stürzte als erster über die Dogge, wollte sich an Harald festhalten, riss ihn mit um, beide fielen gegen Dietrich und stürzten schließlich gegen den Schreibtisch. Haralds Pistole flog in hohem Bogen davon, etwas Weißes schoss durchs Fenster, Rolf kreischte, als sich Fenrirs Zähne in sein Bein bohrten, Fafnir stöhnte ob der unglaublichen Anstrengung, aufstehen, die Lefzen hochziehen und knurren zu müssen.
Die Pistole landete, Holz splitterte.
„Verdammt nochmal! Mein Schiff! Ihr habt mein Schiff kaputtgemacht!“ Fassungslos stand der Klabautermann vor den Resten des Schiffsmodells, mindestens genauso fassungslos von den dreien angestarrt.
Harald hob einen Arm und deutete auf die Erscheinung. „D...d...“
„Ich hab’s euch doch gesagt! Der Klabautermann steht mit dem Alten im Bunde! Ich hab euch gesagt, dass ich den gesehen habe, als wir den Alten ...“ Rolfs Kreischen erinnerte langsam an das von Scheherazade. Nur dass die nicht zu Hysterie neigte. „Weg hier! Bevor wir alle untergehen!“
„Aber wir sind doch gar nicht auf einem Schiff ...“
Dietrichs Einwand fand kein Gehör, seine Brüder nahmen ihn und ihre Beine in die Hand und rannten um ihr Leben.

Idis hockte auf dem Boden, eine Papierrolle in der Hand. Neben ihr stand der Klabautermann und raufte sich die Haare. „Sehen Sie sich das an! Sämtliche Masten abgebrochen! Der Rumpf – entzwei gebrochen – mitten durch ... ogottogottogott! Kriegt man das wieder hin?“
Idis sah kurz auf. „Hm? Ja, ich denke schon. Wenn man viel Klebstoff und viel Zeit hat. Aber sehen Sie mal, das hier war in dem Schiff versteckt.“ Sie rollte das Papier auseinander. Ein Plan. Eine Karte. „Nun vergessen Sie doch mal den Kahn und sehen Sie doch mal her! Könnte das ...“
Der Klabautermann warf einen kurzen Blick auf die Karte, um sich dann sehr langsam und sehr aufmerksam nach ihr umzudrehen. Er ließ sich neben Idis auf dem Boden nieder.
„Die Ragnhild ...“ hauchte er.
„Rangen- wer?“
„Die Ragnhild. Da, wo dieses Kreuz da auf der Karte ist, ist die Ragnhild gesunken. Vor vierhundertzweiundreißig Jahren. Mein Schiff.“
„Naja, in den vielen Jahren ist vermutlich an jedem Ort der Nordsee mal eins deiner Schiffe gesunken ...“
Er schüttelte heftig den Kopf, die roten Haare flogen. „Nein! Mein Schiff!“
Idis begriff. „Du meinst, als du noch ein Mensch – also, ich meine, als du noch lebendig warst? Da war das dein Schiff? Und ist dort gesunken?“
Er nickte einmal und saß dann ganz still. „Es ist nicht einfach so gesunken. Ich habe es sinken lassen ... nicht absichtlich, natürlich, aber es war meine Schuld. Ich war zu leichtsinnig. Alle hatten mich gewarnt vor dem Unwetter, aber ich bin trotzdem in See gestochen, mitten hinein in den Orkan. Der Sturm hat uns auf die Felsen geworfen; du kennst sie, oder?“
Idis nickte. Die Untiefen im Sund kannte jeder, Felsen, die nur bei Niedrigwasser zu sehen waren und bei Hochwasser heimtückisch unter der Wasseroberfläche lauerten. Auch heute noch fielen ihr Boote zum Opfer.
„Mit Mann und Maus ist das Schiff gesunken. Es waren Familien an Bord, Frauen, Kinder. Alle tot, alle ertrunken. Eine alte Frau hat es noch geschafft, mich zu verfluchen. Ich muss auf Schiffen spuken, bis meine Knochen vom Grund der See geholt und bestattet werden.“
Idis betrachtete das Häufchen Elend, zu dem der Klabautermann geworden war, inmitten der Holzsplitter. Immerhin hatte er ihr zweimal das Leben gerettet. Sie studierte die Karte.

Fast fünf Stunden später warf Idis die Lampe und den Sack ins Boot und kletterte dann selbst zurück an Bord der Rhiannon. Ihre Erinnerung war richtig gewesen – sie hasste das Tauchen immer noch, zumal bei Nacht. Aber dunkel war es da unten in dem trüben Wasser immer. Trotzdem hatte sie Erfolg gehabt. Die Karte ihres Großvaters war sehr genau, Idis hatte – dank GPS – kaum suchen müssen und dann auch unter Wasser das Wrack bald gefunden. Sie hoffte jetzt nur, dass sie auch die richtigen Knochen hatte. Immerhin konnte der Klabautermann sich noch sehr genau daran erinnern, dass er am Steuerrad gestanden hatte, als das Schiff sank, also hatte sie alles eingesammelt, was in dessen Nähe gelegen und nach Knochen ausgesehen hatte. Na gut – nicht nur Knochen. Bei dem Armband hatte sie nicht widerstehen können. Ob das Gold war?
Fenrir schnüffelte an dem Sack herum, kletterte daran hinauf und hinunter und versuchte dann, den Sack unter eine der Bänke zu zerren. Sollte er, dann war er wenigstens beschäftigt. Im Gegensatz zu ihr liebte der Terrier Boote und war bisher trotz seiner ständigen Rennerei noch nie ins Wasser gefallen. Idis warf den Motor der Rhiannon an und wendete das Boot zurück Richtung Küste. Gleichmäßig glitt der Bug, bemalt mit den drei Vögeln in grün, gold und weiß, durch das dunkle Wasser. Auf einmal hörte Idis Motorengeräusch. Ein Schiff näherte sich, ein Fischkutter oder so etwas. Naja, für die war es nichts Besonderes, nachts rauszufahren.
Mist, der hielt genau auf sie zu, sie musste ausweichen. Das Schiff wich zur gleichen Seite aus. Auch beim dritten Mal dachte sie noch an blöde Zufälle – so wie wenn zwei Leute aneinander vorbei wollen und ein paar Mal hintereinander zur selben Seite ausweichen. Obwohl es für sowas auf See eigentlich klare Regeln gab. Die jeder Fischer kannte.
Dann erkannte sie die Theresa.

Idis stellte den Motor ab und wartete. Die Theresa war um einiges schneller als die betagte Rhiannon, sich kooperativ zu zeigen war wahrscheinlich die einzige Möglichkeit zu verhindern, von den Kerlen nicht einfach gerammt und versenkt zu werden.
Die Rhiannon schwankte empört in den Wellen, als die Theresa sich an ihre Längsseite legte. Einer der Brüder leuchtete Idis ins Gesicht, in der anderen Hand eine Pistole. Rolf, wie sie an der Stimme hörte. „Sieh an, wen haben wir denn da? Wusste doch, dass wir nur zu warten brauchen, bis sie uns zum Wrack führt. Und so einen schönen Sack hat sie dabei. Gib her, das Teil!“
Als Harald nun in ihr Boot sprang, wäre die Rhiannon fast gekentert. Er griff nach dem Sack und hatte Fenrirs Zähne in der Hand. Aufschreiend schleuderte er den Hund gegen die Bootswand – Idis schnappte sich das Tier, bevor er wieder auf den Eindringling losgehen konnte. Bei allem Mut hatte der Terrier keine echte Chance gegen ihren Bruder. Der zerrte den Sack auseinander und griff hinein. Als erstes hatte er das Armband in der Hand und grinste zufrieden. Dann kam ein Knochen. Ein weiterer Knochen. Noch mehr Knochen. Angewidert schüttete Harald den Inhalt des Sackes in die Rhiannon.
„Das soll alles gewesen sein? Bloß altes Gerippe? Wo ist der Rest?“ Aber selbst Harald musste in seiner Wut einsehen, dass man in einem kleinen offenen Boot keine Schatzkisten verstecken konnte.
Immer ein Auge auf Rolf und seine Pistole gerichtet, setzte Idis den Hund ab, griff in die Jackentasche und zog die Karte hervor. Als sie Harald das Papier hinhielt, zitterte es nicht nur wegen des Windes. „Hier – versucht es doch selbst. Ist dunkel da unten, hab nur genommen, was ich auf die Schnelle finden konnte. Museen zahlen auch für Knochen.“
„Museum? Du willst das Zeug an ein Museum verhökern? So blöd kannst auch nur du sein. Na, dann viel Glück mit dem Gerippe!“
Sie konnte ihr Glück kaum fassen, Harald gab sich tatsächlich mit der Karte zufrieden und wollte wieder an Bord der Theresa klettern.
Im letzten Moment drehte er sich um, schnappte sich den aufjaulenden Fenrir. „Den nehme ich mit – damit du nicht auf dumme Gedanken kommst!“
Bald verschluckte das Motorengeräusch der Theresa das Kläffen des Terriers, als das Boot im Dunkel verschwand.

Vorsichtig klebte Idis die letzten Seile fest. Dann betrachtete sie ihr Werk. Tagelang hatte sie daran gesessen, das Schiff wieder zusammenzukleben. Es war ein ziemliches Flickwerk geworden – aber es war wieder seetüchtig. Oder es wäre seetüchtig, wenn es nicht nur ein peinliches Modell wäre.
Sie wollte gerade die Hand ausstrecken, um den Fockmast abzubrechen, als mehrere unerwartete Dinge passierten: auf dem Hof erklang ein Kläffen, von dem sie nicht gedacht hätte, es in diesem Leben noch mal zu hören; Fafnir stellte bei den Lauten nicht nur die Ohren auf, sondern schnellte förmlich empor und watschelte so schnell er konnte zur Tür hinaus auf den Hof. Oder vielmehr er wollte hinaus – natürlich war Fenrir schneller und raste bereits in der Stube herum, als Fafnir gerade erst die Tür erreicht hatte. Fenrir sprang hoch in Idis Arme, zappelte dabei aber so sehr, dass sie ihn wieder fallen lassen musste – wobei dann nicht nur der Fock- sondern auch der Großmast zu Bruch gingen.
„Mist. Hat wohl nicht geklappt, das mit meinen Knochen? Liegen sie noch im Wasser?“
Idis holte vorsorglich die Rumflasche aus dem Büfett. „Schlimmer. Trink erst mal.“
Dann erzählte sie ihm, wie sie beim Verbuddeln beobachtet und dann verhaftet worden war, weil die Polizei geglaubt hatte, den Mörder eines vermissten Versicherungsvertreters endlich geschnappt zu haben. „Und nun haben die Behörden deine Knochen. Da kommen wir so schnell nicht mehr ran. Das muss Dietrich gewesen sein. Der mich verpfiffen hat. Die anderen beiden waren auf der Theresa.“
Der Klabautermann sank in sich zusammen, vergaß sogar den Rum in seiner Hand. „Ist nicht deine Schuld. Du hast es ja versucht“, rang er sich dann ab. „Wenigstens hat er das Ganze überstanden.“ Er wies mit der Flasche auf Fenrir, der wie ein Ballon, aus dem die Luft weicht, hin- und herschoss, beobachtet von Fafnir, der schließlich entspannt einschlief.
„War ganz schön knapp.“

Harald sperrte den kläffenden Terrier unter Deck. Rolf steuerte die Theresa an die Stelle, wo laut Karte das Wrack liegen musste. Dann begann der aufregende Teil – und sie hatten Glück, unverschämtes Glück. Von wegen nur Knochen! Münzen, Schmuck, Gold und Silber – wie im Film. Als sie schließlich wieder Richtung Küste fuhren, waren sie reich. Und würden noch reicher werden, denn da unten lag noch mehr.
„Darauf müssen wir einen trinken! Ich hol die Flasche!“
„Warte – erst wenn wir an den Felsen vorbei sind! Ist zu gefährlich im Dunkeln. Was war denn das?“
Es schepperte unter Deck. „Bestimmt die Töle. Ich seh mal nach. Und dann drehe ich dem Vieh ...“
Sprachlos starrten beide Brüder vor sich ins Dunkel. Da stand jemand auf der Reling. Mit roten Haaren und grünen Zähnen, eine Pfeife stopfend.
„D...d...Kl...Kl...“
Der Klabautermann nickte bloß langsam und bedeutungsvoll. (Auch er hatte den ein oder anderen Hollywoodfilm gesehen und wusste, welches Benehmen man von einem Geist erwartete.) Harald drehte sich um und rannte unter Deck. Als er die Tür aufriss, schoss ein weißer Blitz an ihm vorbei nach draußen und sprang ins Wasser. Rolf drehte sich nach seinem Bruder um und brüllte ihm hinterher, da legte sich eine kalte Hand auf seine Schulter. Er fuhr wieder herum, verriss das Steuer.
Ein Ruck ging durch das Schiff, als der Fels kreischend den Rumpf aufschnitt.

„Fenrir hatte das Schiff umgeworfen, das Schiffsmodell von Rolf. Da musste ich auf dem Boot erscheinen. Aber wenn ich auch gezwungen bin, zu erscheinen, kann ich mir durchaus überlegen, wie ich das tue.“ Der Klabautermann nahm einen kräftigen Schluck. „Dann ist er offenbar an Land geschwommen, ein Wunder, dass er das geschafft hat.“
Idis ließ sich auch ein Glas Rum einschenken. „Ein paar Tage muss er ja noch sonstwo herumgeirrt sein. Vielleicht hat ihn ein anderes Boot aufgefischt, wer weiß. Erzählen kann er es ja leider nicht.“
Ja, es war alles wieder in Ordnung. Der Hund war wieder da, sie hatte Ruhe vor ihren Halbbrüdern (einer tot, zwei wegen Unterschlagung von archäologischen Fundstücken mit einem Bein im Gefängnis – wobei Rolf überhaupt nur noch ein Bein hatte, das andere hatte nach dem Unfall amputiert werden müssen – und der Anlass für ihre Verfolgung wohlverwahrt im Museumskeller, nachdem Berufstaucher im Auftrag des Amtes für Denkmalschutz den Schatz aus der gesunkenen Theresa und dem Wrack gehoben hatten) und der zu erwartende Finderlohn würde sogar reichen, endlich das Dach flicken zu lassen. Alles in Ordnung. Bis auf die Kleinigkeit mit den Knochen.
„Weißt du, das wäre ja alles nicht so schlimm, wenn es wenigstens noch richtige Schiffe gäbe. Richtige Schiffe mit richtigen Seeleuten, die den Klabautermann noch erkennen, wenn sie ihn sehen. Aber ich musste gestern schon wieder zu diesem Buddelschiff, der Dreijährige findet es witzig, wenn ich da auftauche. Die Erwachsenen sehen mich überhaupt nicht. Ich kann denen auf Rum über den Kopf gießen und die erklären dem Kind immer noch, dass es spinnt ...“
Schweigend tranken sie ihren Rum.
Es klopfte. „Hallo? Jemand zu Hause?“ Idis runzelte die Stirn, als sie hörte, wie die Haustür geöffnet wurde. Sie stand auf, ging durch den Flur und konnte den Mann gerade noch auffangen, der ihr entgegenfiel. Fafnir schlief völlig unbeeindruckt weiter.
„Äh, guten Tag, Frau – äh – darf ich mich vorstellen? Dirk Schröder mein Name, ich komme von der Nordsee-Zeitung. Sie sind diejenige, die den Schatz ursprünglich gefunden hat? Und von ihren Brüdern so schamlos übers Ohr gehauen wurde? Das ist eine Geschichte, die unsere Leser brennend interessiert! Haben Sie ein paar Minuten für mich?“
Schreck lass nach, die Presse. Soweit Idis sich erinnerte, auch noch der Fuzzi, der den Klabautermann so lächerlich gefunden hatte. Sie stellte den Mann auf seine Beine, um ihn wieder hinausschieben zu können.
Presse. Die vierte Gewalt im Staat. Sie betrachtete den Mann eine Weile, setzte dann das charmanteste Lächeln auf, das sie finden konnte. „Aber sicher doch, kommen Sie herein. Ein Glas R... eine Tasse Kaffee?“

„Wir senden hier und heute life vom Westfriedhof. Soeben ist die Beisetzung ist beendet – die Beisetzung, die seit Wochen die Bürger in unserem Lande bewegt. Endlich, nach über vierhundert Jahren sind die sterblichen Überreste eines Schiffskapitäns der Erde wieder übergeben worden, statt auf ewig im staubigen Keller eines Museum zu lagern. Ich darf sagen, dass auch das EDF, das Erste Deutsche Fernsehen, einen nicht unerheblichen Anteil daran hatte, diesen Fall in die Öffentlichkeit zu tragen und dafür zu sorgen, dass dem Unglücklichen nach so langen Jahren endlich das verdiente christliche Begräbnis zuteil wurde. Hier, liebe Zuschauer, sehe ich die Person, die dies alles unter hohem persönlichen Einsatz ins Rollen brachte – die Frau, die sogar tage- wenn nicht wochenlang im Gefängnis saß, für ihr Ziel, den Toten in geweihte Erde zu bringen. Hätten Sie ein paar Worte für unsere Zuschauer?“
„Moment, gleich ...“ Die Frau zog zur allgemeinen Verwunderung sämtlicher Fernsehzuschauer ein Schiffsmodell hervor und brach dessen Fockmast ab. Dann stand sie da und musterte aufmerksam die Umgebung.
„Äh – ist alles in Ordnung? Wenn Sie unseren Zuschauern vielleicht ...“
„Aber ja. Es ist in Ordnung. Alles in Ordnung.“

© Wiebke Salzmann, 2010

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