• Wiebke Salzmann

  • Text-Wirkerei

  • Wirken an Texten – Wirken von Texten

Schrödingers Katze

Chronik eines mißlungenen Experiments

Diese verrückte Geschichte entstand nach einer Feier, bei der sich jeder ein Wort ausdenken und bis zum nächsten Treffen eine Geschichte schreiben sollten, in der diese Worte vorkommen. Die Worte waren: vernickeln, Pappkarton, Image, Katze, Regenwurm. Den Teil, in dem der Regenwurm vorkam, habe ich weggelassen, weil der Text sonst viel zu lang geworden wäre.


„Kniffel!“ ließ Probalia Amplitudia, oder vielmehr eine ihrer Wahrscheinlichkeitsamplituden, die anderen Amplituden höflich-herablassend wissen. Leicht pikiert zogen die drei anderen der schattenhaften Amplituden Probalias die Augenbrauen hoch. „Oh, tatsächlich, meine Liebe“, flötete schließlich der Schemen zu ihrer Rechten.
„Das ist ja ganz wundervoll für dich!“ Die zuckrige Süße ihrer Worte überdeckte nicht ganz den Neid in der Stimme der Amplitude.
„Nein, nein“, seufzte Probalia, „Soweit ist es schon gekommen, daß eine Wahrscheinlichkeitsamplitude die andere beneidet. Dabei gehören wir doch alle zusammen.“
Das war leider sehr wahr, wie alle Teilamplituden nur zu genau wußten. Nur sie alle zusammen bildeten die vollständige Wellenfunktion von Schrödingers Katze, einem überaus vornehmen Wesen mit Namen Probalia Amplitudia.
Normalerweise wissen wir, wie eine Katze aussieht. Immer wenn wir eine Katze ansehen, sieht sie aus, wie eine Katze eben so aussieht. Aber wie sieht eine Katze aus, wenn man sie nicht ansieht? Da sie dann eben niemand ansieht, kann man strenggenommen auch nicht wissen, wie sie in dem Fall aussieht. Im Allgemeinen vermuten wir, daß eine Katze, auch wenn wir sie nicht ansehen, so aussieht, wie eine Katze eben so aussieht. Aber wissen tun wir es nicht. Das war, sehr vereinfacht, das Problem Schrödingers (sowie vieler anderer Physiker).
Die ganz kleinen Teile, Atome und alles, was noch winziger ist, verhalten sich ganz merkwürdig. Nehmen wir zum Beispiel Nicko. Nicko ist ein Nickelatom mit 28 Protonen. Da er auch 28 Neutronen hat, ist er radio- und auch sonst ziemlich aktiv, und wird deshalb irgendwann zerfallen. Aber niemand kann sagen, wann. Der Zeitpunkt ist völlig zufällig und nicht vorhersehbar. Um Nicko physikalisch zu beschreiben, benutzen wir daher eine sogenannte Wellenfunktion. Diese Wellenfunktion setzt sich zusammen aus verschiedenen Teilwellen, welche alle möglichen Zustände beschreiben, die mit verschieden großen Wahrscheinlichkeiten auftreten. Solange wir Nicko nicht ansehen, ist er mit gewisser Wahrscheinlichkeit zerfallen und mit einer anderen Wahrscheinlichkeit nicht zerfallen. Das bedeutet, er ist, solange wir ihn nicht beobachten, sowohl zerfallen als auch nicht zerfallen, und zwar gleichzeitig, da für beide Zustände Teilwellen in seiner Wellenfunktion vorhanden sind. Erst wenn wir ihn ansehen, kollabiert seine Wellenfunktion in einen der Zustände. In welchen, das bleibt dem Zufall überlassen. Man braucht gar nicht erst zu versuchen zu verstehen, wie ein Teilchen gleichzeitig mehrere Zustände annehmen kann, solange man es nicht beobachtet. Es ist völlig verrückt. Genauso verrückt wie die anderen Aussagen der Quantenmechanik, so wie die, daß ein Teilchen gleichzeitig auch immer eine Welle ist, oder daß ein Teilchen nicht gleichzeitig einen bestimmten Ort und eine bestimmte Geschwindigkeit haben kann. Es ist absolut und vollkommen verrückt.
Bei großen Teilchen, wie zum Beispiel Katzen oder Zeitbomben, nehmen wir nun aber im Allgemeinen nicht an, daß sie zum Beispiel gleichzeitig tot und lebendig sind beziehungsweise gleichzeitig ticken und explodieren, wenn wir gerade mal nicht hinsehen. Das Verhalten einer Zeitbombe ist im Gegensatz zu dem von Nicko absolut vorhersagbar. Sie explodiert nie, da der Krimiheld sie grundsätzlich eine Zehntelsekunde vor der geplanten Detonation entschärft. Um sie zu beschreiben, benutzt man die vernünftigen Gesetze der klassischen Physik. Das Problem war und ist: Wo liegt die Grenze zwischen mikroskopischen Objekten, wie zum Beispiel Nicko, der den verrückten, zufälligen Gesetzen der Quantenmechanik gehorcht, und den makroskopischen Objekten, wie zum Beispiel Probalia Amplitudia, die den berechenbaren, vernünftigen Gesetzen der klassischen Physik folgen, ohne diffuse Unbestimmtheiten, ohne Zufälle und Überlagerungen verschiedener Zustände.
Und um das herauszubekommen, nämlich ob Katzen nicht doch ganz heimlich verrückte, quantenmechanische Dinge tun (wie zum Beispiel gleichzeitig tot und lebendig zu sein), solange man sie nicht beobachtet, wurde Probalia Amplitudia wohlweislich nicht mit einer vorhersagbaren Zeitbombe, sondern mit dem unberechenbaren Nicko zusammen in einen Pappkarton gesteckt. Wenn Nicko zerfiele, würde er Strahlung aussenden, die eine Phiole mit Gift öffnen und Probalia töten würde. Wenn er nicht zerfiele, würde Probalia weiter leben. Da Nicko sich unbestreitbar auf quantenmechanische Weise verrückt verhalten würde, würde er sich in beiden Zuständen – zerfallen und nicht zerfallen – befinden, solange man ihn nicht beobachtete. Demnach müßte auch die Giftphiole sowohl offen als auch geschlossen sein. Das wiederum müßte bedeuten, daß auch Probalia gleichzeitig tot und lebendig wäre – solange niemand in den Karton schaute. Erst im Moment der Beobachtung würde sich die gesamte Wellenfunktion im Pappkarton für einen der Zustände entscheiden – Nicko zerfallen, Phiole auf, Probalia tot oder Nicko nicht zerfallen, Phiole geschlossen, Probalia lebendig. (Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß eine vornehme Rassekatze dieses Experiment als Zumutung empfinden mußte.)
Sobald die Wissenschaftler also in den Karton hinein sähen, würden sie also entweder eine tote oder eine lebendige Probalia Amplitudia vorfinden. Aber sie wollten ja nun gerade wissen, wie es um Probalia stand, solange sie nicht in den Karton hineinsahen. Deshalb diskutierten sie nun schon seit Tagen auf das Heftigste, wie man in einen Pappkarton hineinsieht, ohne hineinzusehen.
Und drinnen im Pappkarton saß Probalia und würfelte zum Zeitvertreib mit einigen ihrer Wahrscheinlichkeitsamplituden. Mit allen Amplituden konnte sie nicht würfeln, eine lag tot in der Ecke. Aber es waren noch genug lebendige Teilwellen übrig, die sich alle durch irgend etwas unterschieden. Eine hatte Schnupfen und einer ganz bedauernswerten Amplitude war eines der sorgfältig gepflegten Schnurrbarthaare abgeknickt. Allerdings empfand Probalia es als zunehmend impertinent und deutlich unter ihrer Würde, in einen Pappkarton eingesperrt zu sein. Pappe! Wo hätte man schon gehört, daß einer Rassekatze – eine der Amplituden strich sich über das seidige Fell – so etwas schon widerfahren wäre. Seufzend würfelte sie von neuem. Außerdem fand sie es extrem enervierend, daß die Wahrscheinlichkeitsamplituden dieses Nickos und seiner Zerfallsprodukte Coballo und Ferro ständig Rapmusik von sich gaben und ihr auf Inlinescatern um die Amplitudenköpfe sausten.
„Würdest du dich bitte mal fünf Minuten still hinsetzen? Es macht mich nervös, wie du dich aufführst. Lernt euereins denn kein Benehmen?“ forderte sie ihn mißbilligend auf.
„Ey, Mann, keep cool!“ Einer der Nickos rückte sein Basecap zurecht. Es war verrutscht und verdeckte seinen megacoolen Ohrring. „Inlinescaten ist megacool! Solltest du auch mal probieren! Boh ey, hast du den Megalooping gesehen?! Cool!“
„Nein, habe ich nicht. Und ich wünsche ihn auch nicht zu sehen!“ gab Probalia mit Nachdruck zu verstehen. Sie verdrehte die Augen. Hätte man ihr nicht eins von den schwereren radioaktiven Elementen vor die Nase setzen können? Die verfügten im allgemeinen über etwas gesittetere Umgangsformen. „Setz dich sofort still hin!“ Sie versuchte es mit Autorität. Ohne jede Wirkung.
„Still sitzen ist völlig uncool. Außerdem ist mein Aufenthaltsort durch diesen Pappkarton begrenzt. Da muß meine Geschwindigkeit unbestimmt bleiben! Du weißt schon, die Unschärferelation! Jede meiner Teilamplituden muß also einen anderen Speed drauf haben! Stillsitzen und abhängen kann nur eine von uns – und wenn du mich fragst, ist das ätzend langweilig!“ Mit einem megacoolen Looping schoß er zwischen zwei ihrer Amplituden hindurch.
Probalia seufzte entnervt. Er hatte auch noch recht. Obwohl sie das einem solchen Rüpel gegenüber niemals zugeben würde. Nach der Unschärferelation mußte in der Tat die Unbestimmtheit der Geschwindigkeit um so größer sein, je enger der Ort eingegrenzt war. Das galt im Prinzip auch für klassische Objekte wie Katzen, aber bei denen war der Effekt sehr viel kleiner. Das winzige Zittern von Probalia fiel nicht weiter auf.
So versuchten die Katzenamplituden nach besten Kräften die scatenden Atomrapper zu ignorieren und sich auf ihre Würfel zu konzentrieren. Draußen näherten sich derweil schlurfende Schritte. Eine ältere Frauenstimme murmelte vor sich hin. „Was die Herren Wissenschaftler für einen Unordnung hinterlassen, ist unglaublich!“ Murmel, murmel, grummel, grummel. Wischende und schabende Geräusche waren zu hören, Wasser lief in einen Eimer. „Man sollte meinen, die arbeiten an einer Chaos-Theorie!“ (Dafür war das Nachbarinstitut zuständig, aber das wußte die Putzfrau nicht.) „Und was ist das nun wieder für ein oller Pappkarton hier?!“ Die Stimme klang zunehmend ärgerlicher. „Da ist bestimmt wieder jede Menge Kram drin, den keiner versteht und erst recht keiner braucht!“
„Oh, Scheiße!“ (An dieser Stelle müssen wir uns für die absolut inakzeptable Ausdrucksweise von Nickelatomen entschuldigen. Aber im Interesse einer authentischen Berichterstattung sehen wir uns gezwungen, den Originalwortlaut wiederzugeben.) Man muß wissen, daß es für Elementarteilchen in Pappkartons immer eine gewisse Aufenthaltswahrscheinlichkeit außerhalb dieses Pappkartons gibt. (Auch das ist wieder absolut und vollkommen verrückt.) Es schickt einen Teil seiner Wellenfunktion durch die Pappe hindurch wie durch einen Tunnel, auch wenn da gar kein Tunnel in der Pappe ist. Dieser winzige Teil von Nickos Wellenfunktion, der aus dem Karton hinausragte, sah also die Putzfrau auf den Karton zukommen und den Deckel öffnen.
„Oje, oje, ich kollabiere!“ rief Probalia mit leicht hysterischem Unterton. Und tatsächlich – in dem Moment, in dem die Putzfrau mit leicht angewidertem Gesicht in den Karton sah und fassungslos brummte: „Ein Katzenvieh!“ verschwanden alle von Probalias Teilamplituden bis auf eine. Probalia hatte immerhin das Glück, daß es eine ihrer lebendigen Wahrscheinlichkeitsamplituden war, die übrig blieb, als ihre Wellenfunktion kollabierte. Die Wahrscheinlichkeitsamplituden von Nickos Zerfallsprodukten verschwanden ebenfalls. Nur noch eines der nicht zerfallenen Nickelatome schwirrte leicht verwirrt durch den Karton. „Ey Mann – so’n Mist! Allein scaten ist völlig uncool!“ schimpfte er vor sich hin. „Du siehst aber auch ziemlich vernickelt aus, eyh!“
„Ver…? Ich sehe durchaus nicht ‚vernickelt‘ aus!“ Probalia rümpfte die Nase und versuchte sich an die neue Situation zu gewöhnen. Sie fühlte sich irgendwie so körperlich, so real.
Einige der Wissenschaftler gingen an dem Karton vorbei, nicht ahnend, daß ihr Experiment bereits durch unbefugte Beobachtung gescheitert war. Einer mit Schnauzbart und wirrer weißer Mähne sagte gerade energisch: „Jedenfalls bin ich überzeugt, daß der Alte nicht würfelt!“
„Aber ich tue das!“ murmelte Probalia ingrimmig, „oder vielmehr, ich würde, wenn ich noch Spielpartner hätte.“ (Wir müssen den Leser an dieser Stelle aufklären, daß Einstein mit seiner Bemerkung irrte. Gott würfelt vermutlich doch. Ob er es allerdings mit Katzen tut, wissen wir wegen des Scheiterns des Experimentes bis heute nicht.)
So ist also wegen unzeitigen Öffnens durch Unbefugte dieses Experiment leider gescheitert, wodurch wieder einmal Unsummen an Forschungsgeldern den Bach hinuntergingen (DM 3000 für eine Rassekatze – eine wirklich vornehme Rassekatze –, DM 18.95 für eine Glasphiole, DM 2.50 für ein Packset der Größe XL der Deutschen Post AG im Weihnachtssonderangebot, sowie DM 273,47 für ein Nickelatom inklusive Basecap und Inlinescater).
Deshalb ist leider bis heute keine Antwort auf die Frage nach der Grenze zwischen klassischer Physik und Quantenphysik bekannt, da in Fachkreisen immer noch über die Verbesserung der Experimentieranordnung diskutiert wird. Nicht nur, daß Pappkartons sich als ungeeignet erwiesen haben, weil viel zu leicht zu öffnen, wurde auch aufgrund einer Katzenhaarallergie von einigen Wissenschaftlern vorgeschlagen, auf haarlose Reptilien auszuweichen.
Probalia verbringt ihre Tage jetzt auf einem rosa Satinkissen (an Geburtstagen wird es durch ein goldenes ersetzt) und ernährt sich von feinem Hühnerragout, garniert mit frischer Petersilie. Nicko soll auf verschiedenen Inlinescatertreffs gesehen worden sein, aber seine neue Gang gibt seinen Aufenthalt nicht preis.
Wir müssen daher unseren Forschungsbericht an dieser Stelle leider abbrechen. Wir hoffen, dem geneigten Leser trotzdem einen Einblick in die spannende Welt physikalischer Experimentierkunst geboten zu haben.

© Wiebke Salzmann, 1999

© Wiebke Salzmann